Ein Segen von einem Hobby

Zwei Stunden: So lange dauerte es, bis Nathalie Werner von ihrem Wohnort Braunschweig bei ihrem Chor in Bad Münder ist.

Als die 22-Jährige das erklärt, verstummen ihre Mitsinger. Viele in der Runde wussten das nicht. Dann sagt die 81-jährige Gertrud Bünnig herzlich: „Wir sind froh, dass Du da bist.“

Hier singen Junge und Lebenserfahrene zusammen. Frauen und Männer. Paare und Singles. Urgesteine wie Zugezogene. Vielstimmig, vielsprachig und offensichtlich wohltönend. Mit seinem Konzert vorigen Sonntag verstand es der Chor, sein Publikum zu berühren, erntete wohlwollendes Feedback von vielen Seiten. Seither firmiert er unter dem neuem Namen Chorus Vocale Petri-Pauli. „Wir wollten mit dem Namen Kirchenchor niemanden mehr verschrecken und außerdem ist dies hier viel mehr als Kirchenmusik“, erklärt Kantor und Chorleiter Dean Schrammer stolz. Innerhalb eines Jahres hat die Mitgliederzahl mehr als verdoppelt – von 14 auf 30 Frauen und Männer, weitere sind willkommen. Dabei sei das Gemeinschaftsgefühl beständig mitgewachsen. So wie die Sänger es schildern, muss das Gefühl danach in etwa das Gegenteil von Novemberblues sein. „Abends nach der Probe gehe ich mit den Melodien ins Bett und manchmal stehe ich morgens damit auf“, sagt eine So-pranistin. Nicht selten singe sie noch durch während sie in ihren Zustellbezirk fahre, sagt die Postbotin.

Ihr Mann dagegen schätzt es während der Probe völlig abzuschalten von allem beruflichen und alltäglichen. „Ich muss mich hier schon sehr auf die Noten konzentrieren“, sagt er. Noch eine Sopranistin erklärt, sie könne hier wunderbar Frust heraussingen. Und Gertrud Bünnig erklärt mit einem feinen Lächeln: „Ich fühle mich nach den eineinhalb Stunden immer so richtig durchgepulvert“. Schade sei, dass viele der Damen mit denen sie früher gesungen habe, gestorben sind.

Dynamik ist in jedem Fall Programm dieses Klangkörpers. „In der Chorpädagogik heißt es immer, man solle einen Chor nicht überfordern. Ich bin davon überzeugt, dass das Gegenteil der Fall ist“, sagt Schrammer. Er wolle fördern und fordern, und so Spaß haben, erklärt er weiter. Aus dem Studium in Hannover bringt er Stücke mit nach Bad Münder, die ihn selbst inspirieren. „Das hier zum Beispiel von Ola Gjeilo klingt fast impressionistisch, ist aber zeitgenössisch. Und dieses eher schwierige von Gabriel Fauré klingt so schön, dass alle es singen wollten“, gibt er Einblick in die Stückauswahl des jüngsten Konzertes.

Dass der Chor sich so positiv entwickle, versucht er, mit Wertschätzung zu erklären. Die meisten Neuzugänge des Chores seien persönlich angesprochen worden. „Vielleicht fühlen sich als Persönlichkeit gesehen?“ Während der Probe spielt er den Mitgliedern ein Lied aus dem jüngsten Konzert vor. „Zum Genießen“, sagt er. „Das war super“, lobt Schrammar zum Schluss. Die große Konzertkritik gab es zuvor. Glücklich hatten sich viele gefühlt – geehrt, vor so vielen singen zu dürfen, gemeinsam mit einem Orchester aus Profimusikern. Das Feedback war überwältigend. Die Stimmung des Chors: erleichtert. „Unsere letzten beiden Zusatzproben hatten wir bitter nötig und dieses Ochester auch“, setzt Rothe nach. Allen war bewusst, dass sie sich mit diesen Stücken viel zugemutet und letztlich doch zugetraut hatten.

Nach einer weiteren dreiviertel Stunde intensiven Probens in allen Stimmlagen machen sich die Mitglieder nicht nur wohlgestimmt auf den Heimweg sondern im Wortsinn gesegnet. Gerade haben sie die Probe mit einem Segenslied des Komponisten Helge Burggrabe beendet. Im Saal umhergehend, sich tief in die Augen blickend, spontan Umarmungen austauschend. „Das ist einfach unser schönstes Lied“, sagt eine. Als wir das in der Gemeinde gesungen haben, haben die Leute uns so angestrahlt, dass man förmlich gemerkt hat, die wollen sich diesen Segen auch abholen“, sagt Hans-Joachim Rothe.