„Komm, wir laufen zu Oma“

Oma ist die Beste. Was aber, wenn sie etwa 130 Kilometer entfernt von Bad Münder im Harz lebt? Dann ist ein Besuch bei ihr vielleicht sogar ein Abenteuer wert. Familie Radenz entschied sich in diesen Sommerferien für ein besonderes Projekt mit dem Arbeitstitel: „Komm, wir laufen zu Oma“.

VON KATHARINA WEIßLING

Der fünfköpfige Familienrat ließ sich überzeugen und los ging die mehrtägige Wanderung mit minimalem Gepäck, den beiden Familienhunden und einigen selbst auferlegten Regeln. „Wir haben uns zum Beispiel entschieden, grundsätzlich kein Feuer zu machen um Waldbrandgefahr oder nachvollziehbaren Ärger von vorneherein auszuschließen“, erzählt Mutter Carolin Radenz. Warmer Kaffee oder Tee würden folgerichtig entfallen. Stattdessen verstaute jeder seinen Lieblingskuschelpullover und eine Garnitur Wechselwäsche in wasserdichten Packsäcken im Rucksack.

Zweite Regel: Wanderkarten statt Handys. Dritte Regel: Mit sehr wenig Bargeld auskommen. Hier und da ein Stück Obst, eine Flasche Wasser und im Notfall eine Übernachtung auf dem Campingplatz wären erlaubt. Ansonsten sollten vor allem Müsli und Trockenobst die nötige Energie geben. Wildes Campen im Zelt ist verboten. Folglich mussten Schlafsäcke auf wasserdichter Unterlage reichen. Ein Moskitonetz musste aber unbedingt mit. Zum Unterstellen auch ein so genanntes Tarp, eine wasserdichte Plane. „Das will man gar nicht wissen, wer einen sonst alles ankriechen würde des Nachts“, sagt Radenz lachend. Der große Hund Haiati sollte mit Schneckenspuren auf dem Fell aufwachen.

Die Wanderung begann munter. Etwa 20 Kilometer wollten die Erwachsenen sich, ihren drei Kindern im Alter von neun, elf und zwölf Jahren, sowie den Hunden Resa und Haiati täglich zumuten. „Dass unsere sportlichen Kinder das schaffen würden, war uns klar, weil wir uns bewusst nur ein Familienauto leisten und viele Wege zu Fuß machen“. Mit großem Gepäck (für die Kinder zwölf bis 16 Kilo, für die Erwachsenen 31 und 33) sei das Gefühl jedoch ein grundsätzlich anderes. „Nach gut 18 Kilometern immer noch auf ein Schild ‚Rundweg Bad Münder‘ zu treffen, war schon etwas ernüchternd“, erinnert Carolin Radenz an Tag eins. Ein kräftiger Guss in der Nacht sollte die Familie noch mehr auf den Boden der Tatsachen holen. Die Jungs wollten das ambitionierte Projekt schon aufgeben. „Ich selbst war hin und hergerissen“, sagt Carolin Radenz. Die zwölfjährige Tochter allerdings war gänzlich anderer Ansicht. „Seit wann sind wir eigentlich eine Familie, die bei den ersten Schwierigkeiten aufgibt“, rief sie empört. Ihre folgende spontane Ansprache entfaltete enorme Überzeugungskraft. Also hieß es: Gut frühstücken und weitergehen. Einmal den gesamten Saupark durchqueren. „Teile unserer Strecke führten über uralte Wanderwege, manche waren als Jakobsweg markiert“, informiert Carolin Radenz. Für sie habe das einen besonderen Reiz, sich auf diese Art in die Geschichte einzufühlen.

In den Nächten schliefen die Kinder gut, die Erwachsenen eher leicht. „Ich glaube, dass da der Beschützerinstinkt gegriffen hat und war erstaunt, dass wir zwar lange wach lagen und immer wieder den Mond betrachtet haben, aber trotzdem erholt aufgestanden sind“, sagt Carolin Radenz. Die Füße taten weh, der Alltagsstress aber sei Zuhause geblieben. Das Wetter sollte herausfordernd bleiben. Mal liefen die sieben vor Gewitterwolken davon, mal fingen sie Wasser von Schutzhüttendächern zur Selbstversorgung auf. Der Versuch, eine Nacht gewitterbedingt in Kirchenräumen zu verbringen scheiterte gnadenlos. „Es war einfach niemand zu erreichen, und ungefragt hätten wir das respektlos gefunden.“ Überhaupt hätten sie penibel darauf geachtet, anfallenden Müll mitzunehmen und jedwede Rastplätze ordentlich zu verlassen.

Am Ende der veranschlagten Reisezeit waren noch um die 50 Kilometer zu laufen. Wegänderungen, Wetterkapriolen und hier und da auch forstwirtschaftlich verrückte Wege hatten die tapfere Gruppe nicht schneller gemacht. „Aber das eigentliche Ziel dahinter war längst erreicht“, sagt Radenz. Alltägliche Streitereien wegen Kleinigkeiten waren verpufft; wir haben uns gefragt, wer was tragen kann und wer Hilfe braucht und haben plötzlich wieder super miteinander funktioniert“, sagt Radenz.

Die letzten Kilometer also bestritten sie mit Bus und Bahn. Es folgten fröhliche Tage in Werningerode mit dem vollem Luxus der Zivilisation: Warme Dusche, gekochte Mahlzeiten, ein Dach über dem Kopf und natürlich: Zeit mit Oma. Aber auch: Abenteuer im Herzen und nach bestandenen Prüfungen größerem Selbstvertrauen als zuvor.