Plötzlich verdoppelt

Vor genau 75 Jahren muss es an den hiesigen Bahnhöfen erschütternde Szenen gegeben haben. Aus klapprigen Waggons taumelten Hunderte von Menschen, verängstigt, übermüdet und erschöpft. Jeder trug nur ein paar jämmerliche Habseligkeiten mit sich – als letzte Erinnerung an die verlorene Heimat. Und hier soll nun eine neue Zukunft beginnen?

Die hiesigen Orte hatten im Zuge der Kriegswirren schon einen ersten Zustrom an Menschen erlebt. Evakuierte kamen aus zerbombten Großstädten. Bewohner aus Gebieten östlich von Oder und Neisse und sogar schon aus Brandenburg flohen aus Angst vor der heranrückenden Roten Armee. In Schlesien machte sich zunehmend Unsicherheit breit, als im Herbst 1945 die Orte polnische Namen erhielten und der Zloty zur Währung wurde.

Im Frühjahr 1946 verdichteten sich die Gerüchte, dass alle Deutschen ausgewiesen würden. Und dann ging es ganz schnell. Überall das gleiche Bild: Nur der Zeitpunkt der Befehle war unterschiedlich. Binnen weniger Stunden mussten sich die Menschen mit Handgepäck auf Markt- oder Sportplatz versammeln. Züge, manchmal nur mit ungeheizten kalten Güterwagen, warteten am Bahnhof. Dorthinein wurden die Vertriebenen gepfercht. Die Züge rollten bald in westliche Richtung, auch ins Deister-Süntel-Tal, – manchmal mit langen Zwischenaufenthalten, sodass sie über mehrere Tage unterwegs waren, obwohl sie ihr Ziel auch nach nur zwölf Stunden hätten erreichen können.

Rund 50 Jahre später berichteten die Schwestern Margarete und Erika Grimme den damaligen Mitgliedern einer lokalhistorischen Arbeitsgemeinschaft in Lauenau von ihren Erlebnissen. Morgens um 9 Uhr habe der Vertreter des Bürgermeisters ihres Heimatortes Eichenau „in zwei Stunden ist Abmarsch“ kommandiert. Das war am 27. Mai 1946. Erst durften sie noch allerlei Gepäck mitnehmen. Doch nach zwei Kilometern Fußmarsch in den Nachbarort mussten sie den Inhalt ihrer Koffer und Rucksäcke den Plünderern übergeben. Nur wenige Sachen blieben ihnen. Nachts um 1.30 Uhr rollte der Zug in Richtung Westen.

Fünf Tage später, am 1. Juni, kamen die 1500 Menschen aus dem Kreis Grottkau in Rodenberg an, darunter allein 786 Einwohner aus Eichenau. Der vor einigen Jahren verstorbene Lokaljournalist Walter Münstermann hielt in seinen Jugenderinnerungen seine damaligen Beobachtungen fest: „Die Kolonne aus (…) Frauen, Kindern und Männern setzte sich in Bewegung, Richtung Stadtmitte. Ein Teil wurde in der Turnhalle der Stadtschule einquartiert, andere im Schloss-, Stockholm- oder Ratskellersaal, in Schulräumen und Wirtshäusern. An folgenden Tagen verteilte man sie nach bestimmten Quoten auf die Dörfer oder wies ihnen Wohnraum in Rodenberg zu.“ Margarete Grimme zeigte sich noch 50 Jahre später erschüttert von ihren damaligen Eindrücken: „Keiner will uns aufnehmen. Endlich ist eine Stelle für uns vorgesehen. Wir stehen vor der Tür wie Bettler. (…) Das soll die neue Heimat sein?“

So wie nach Rodenberg führte das Schicksal fast 1700 Menschen aus verschiedenen Orten der Kreise Glatz, Hirschberg, Neumarkt, Ohlau, Lauban und Bunzlau in zehn Zügen zwischen dem 13. März und 10. Juli in das Deister-Sünteltal. Manche waren bis zu einer Woche unterwegs, geparkt auf Abstellgleisen, ohne Nahrung und Trinkwasser. Ein Zwischenstopp war im Sammellager Uelzen zur Entlausung.

Die Verantwortlichen im Rathaus hatten alle Hände voll zu tun: Wo sollten sie diesen Schwall von Menschen, der sich über ihre Orte unablässig ergoss, unterbringen? Wie sollten sie ernährt werden?

Überall hatte sich die Einwohnerzahl in kürzester Zeit verdoppelt. Allein in Bad Münder wuchs die Bevölkerung von 4113 (1939) auf 6794 (1946) Personen. In den Dörfern war der prozentuale Sprung noch höher, wie die Beispiele Bakede (für den gleichen Zeitraum von 739 auf 1436 Einwohner), Hamelspringe (von 564 auf 1142), Klein Süntel (von 124 auf 246) zeigen. In Eimbeckhausen stieg die Zahl von 1264 auf 2316 Menschen.

Ganze Familien hausten in winzigen Zimmern oder Knechtskammern. Unter einem Wohnhaus-Dach lebten mitunter Dutzende Personen. Mitunter gab es unschöne Szenen: Auf manchem Bauernhof wurde ein Wohnraum für die Aufbewahrung von Erntevorräten genutzt, damit ja nicht Vertriebene zugewiesen werden konnten.

Auch wenn heute nicht mehr viele Menschen die damaligen Ereignisse persönlich miterlebt haben, so halten sie doch noch fest zusammen. Die Eichenauer treffen sich in jedem August zu einem Gedenkgottesdienst in Rodenberg. Die Friedersdorfer, die ebenso wie die Gersdorfer eine Heimatsammlung besitzen, kommen regelmäßig in Bad Münder zusammen. Allerdings haben sie ihre gemeinsamen Fahrten nach Schlesien inzwischen aufgegeben.

Lange Zeit war auch der Bund der Vertriebenen (BdV) eine wichtige Verbindung untereinander, wenn es um die Erinnerungen geht. Doch mit jeder weiteren Generation verblasst die Erinnerung an die Herkunft der Eltern und Großeltern. Die neue Heimat ist hier gefunden.