Sie macht, was sie will

„Nie hätte ich gedacht, dass mein Alter so schön sein würde“, sagt Schwester Gerda.

Seit 27 Jahren ist die frühere Gemeindeschwester Gerda Wernicke im Ruhestand und froh darüber. Denn sie nutzt die Stunden und genießt die Ergebnisse. Um sie herum farbenfrohe Bilder, auf dem Tisch ein Windlicht mit Scherenschnitten auf selbst bestickter Decke. „Alles, was Sie hier sehen, habe ich selbst gemacht“, sagt die 87-Jährige stolz.

In Händen hält sie wahlweise eine Tasse schwarzen Tees oder aber eines ihrer selbst gestalteten Bücher. „Empfindliche Einzelstücke sind das“, bemerkt sie und erzählt munter, welche davon besonderen Anklang gefunden hätten im Bekanntenkreis. Mal sind es Aufstellbilder, mal solche mit komplizierten Auslassungen oder aber eingehängten Schriftzeichen. Kolorierte Federzeichnungen fügen sich mit Collage-Techniken und sorgfältiger Handschrift zum Gesamtkunstwerk. Hier leuchten wunderbare Herbstfarben, dort sind Farben bewusst zurückgenommen. Ein Buch handelt von der rasch vergehenden Zeit, ein anderes von einer frechen Waldfee.

Die Inhalte reichen von philosophischen Betrachtungen über Kindergeschichten bis hin zu auf den Punkt erzählten Dönekes aus Schwester Gerdas eigenem Berufsleben. „Besonders zum Anfang war das hart“, erzählt sie von strengen Diakonissen in der Ausbildung. Doch noch immer lacht sie herzhaft, wenn sie aus dem Nähkästchen plaudert und sich früherer Scherze erinnert.

Als erste Schwester im Umkreis kümmerte sie sich um einen Aidskranken, bekam Diskriminierungen hautnah mit, während sie eigene Ängste überwand. „Das war ein bisschen so wie heute mit diesem rätselhaften Virus“, sagt sie. Dann wieder lieferte die schlagfertige Radfahrerin sich Wettrennen mit Busfahrern.

Oder aber sie erklärte Pflegebedürftigen energisch, dass sie sich am siebten Tage selber spritzen müssten und wie genau. Mußestunden waren rar, Vertretung erst später selbstverständlich. Dabei bestritt sie sämtliche Wege mit dem Fahrrad. Denn auf vier Rädern fühlte sie sich auch nach hundert Fahrstunden und bestandener Prüfung völlig unwohl. „Alleine bin ich nie gefahren“, gibt sie zu. Stattdessen radelte sie sich durch bis zum frühen Ruhestand.

Seither nutzte sie jeden Sommer, um sich fortzubilden in praktischem Kunsthandwerk. Jahr für Jahr belegte sie zwei Wochenkurse in der Norder Sommerakademie. Holzdruck, Kalligrafie oder Buchgestaltung – vermittelt von hauptberuflichen Künstlern an Laien. Von frischem Wind umweht, genoss sie nicht nur die Nordsee, sondern ein Haus und einen Garten erfüllt von Kunst. Sog Inspiration von Gleichgesinnten und Lehrenden auf und übernahm Kunsthandwerkstechniken von Profis. „2020 hab ich das auch noch gemacht, mit Mundschutz und so“, sagt Schwester Gerda. „Das sind geschenkte Jahre, die ich jetzt habe“, sagt sie dankbar.

„Wenn ich es recht bedenke, entspricht dieses Kreative am meisten meinem Wesen“, sinniert die 87-jährige Ruhestands-Künstlerin. Gleichwohl betrachtet sie ihre frühere Arbeit in der Pflege als Berufung. „Ich habe mich hier durch die Häuser gepflegt“, sagt sie lachend.

Noch davor hatte sie eine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin genossen. Doch eine hervorragende kirchliche Jugendarbeit in ihrer Heimat Bremen hatte tiefe Spuren hinterlassen und sie dazu bewegt, umzusatteln.

Auf Volkshochschulen singt sie ein Hohelied. „Erst da habe ich Kultur und Bildung bekommen“, sagt Gerda Wernicke, die nur wenige Jahre zur Schule ging. Einen künstlerischen Beruf schloss sie aus, nachdem sie eine Meistertöpferin in deren voll ausgestatteter Töpferstube mit schmaler Pritsche als Schlafstatt kennengelernt hatte. „Das war eine Armutserfahrung“, sagt sie.

Ihre Spaziergänge durch die Wälder sind kürzer geworden, die Zeiten auf Parkbänken länger. „Aber heute mache ich, was ich will“, sagt die gebürtige Bremerin. Bad Münder ist für sie: „Ein süßes Kaff, wenn die Sonne drauf scheint.“