Wandern bis nach Göteborg

Wer bin ich und wenn ja wie viele? Genau das will Ulf Gebhardt gerade rausfinden. Er ist weg aus Berlin, raus aus dem eigenwilligen Berufsalltag eines Informatikers und gerade mittendrin in der Natur.

Seinen Körper spürt der 31-Jährige jeden Tag. Besonders die Füße, denn die tragen ihn, sein Zelt und weiteres Gepäck täglich ein gutes Stück in Richtung Schweden. Mit seinen 25 Kilo Gepäck und um einige Erkenntnisse reicher will er schließlich Göteborg erreichen. Weil er da schon mal gearbeitet hat und die Stadt sehr mochte, ist sie sein Ziel. Gestartet ist er in Südhessen, in seinem Heimatort Zwingenberg.

Der Europäische Fernwanderweg E 1, markiert mit Andreaskreuzen, bringt ihn gen Norden. Mal besser, mal schlechter zu lesen sind die Streckenmarkierungen. „Man merkt oft, wo das eine Dorf, die Zuständigkeit des einen Heimatvereins endet und der nächste übernimmt“, hat er festgestellt und orientiert sich mithilfe der geladenen Karten im Handy. „GPS zu nutzen würde zu viel Strom kosten“, sagt er und gerade der sei nicht so leicht zu bekommen. Oft fragt er nach dem Weg, freut sich, mit ganz unterschiedlichen Menschen ins Gespräch zu kommen, viel mehr und direkter zu kommunizieren als noch vor ein paar Monaten. Mal nimmt ihn jemand schnell mit zum Supermarkt, mal gibt es Tipps von anderen Wanderern oder Mountainbikern. Manchmal bangt er aber auch um den Platz zum wild campen.

„Heute ist so ein Tag, da habe ich schon drei Mal nach dem Weg gefragt“, berichtet er. Vor die Entscheidung gestellt, entweder noch zum Abendessen zu bleiben oder eine Fahrt bis zur Hütte auf dem Deisterkamm anzunehmen, entscheidet er sich für letzteres. Denn der Rucksack ist noch prall gefüllt vom Einkauf im Rohmelcenter; auf ein Bier mit Ausblick freut er sich schon lange. Kleine Strecken mit dem Auto abzukürzen findet er legitim. Immer mal wieder eine Übernachtung im Hostel genauso. „Alle drei Tage mal warm duschen darf schon sein.“ Er habe sich keine strengen Regeln auferlegt und wolle die Reise genießen. Die ursprüngliche Idee, barfuß zu laufen verwarf er mit den ersten Blasen.

Während sein Handy lädt, schält er Kartoffeln und erzählt von Berlin einerseits, von Etappen der Reise andererseits. Den Westerwald hat er gesehen, dem Rothaarsteig ist er bis Bad Berleburg gefolgt, die Nacht zuvor hat er auf dem Schweinberg bei Hameln verbracht und so weiter. Jeder Tag ist anders, mal wandert es sich leicht, mal schwer, ebenso wie das Wetter schwankt auch die Gemütslage von heiter bis wolkig. Frisches Wasser holt er sich pragmatischerweise manchmal auf Friedhöfen.

Warum die Reise zu Fuß? „Früher als Kind habe ich Tagestouren mit meinen Eltern gemacht und das gemocht“, greift er weit zurück. In den vergangenen 17 Jahren habe er vor allem in den Bildschirm geschaut, erzählt er.

„Das reicht jetzt für eine Weile“, sagt der Informatiker. Die Welt verbessern, Idealismus leben, Teil des schnellen Berlins sein, all das liegt unmittelbar hinter ihm. Als Programmierer hatte Ulf Gebhardt zuletzt die App „Democracy“ mitentwickelt, welche den deutschen Bundestag abbildet und vor allem Transparenz ins politische Deutschland bringen will.

Jetzt gewinnt er erst einmal Abstand vom Trubel der Hauptstadt, der Auseinandersetzung mit Mitstreitern und Schritt für Schritt ein besseres Gefühl für das, was er eigentlich will, was sich gut anfühlt und was nicht. Dass, was viele gerade als Plan B für den Sommerurlaub entwickeln, macht er jetzt seit 43 Tagen, profitiert von Begegnungen, von der Zeit mit sich selbst und grüner Umgebung um ihn herum. „Es gibt so viele schöne Landschaften“, sagt er. Kleine Mutproben und Nervenkitzel sind Teil seines selbst auferlegten Sabbatical-Programms. In Hamburg warten Freude auf ihn, danach weitere Grenzerfahrungen in Corona-Zeiten.