Zeit für gute Gewohnheiten

VON KATHARINA WEIßLING

Bad Münder. Gute Gewohnheiten begleiten uns lange, manche tragen uns zuverlässig durch gute wie durch schlechte Zeiten. Jutta Reimann hat schon viele Menschen erstaunt mit ihrer festen Gewohnheit, jeden Tag wieder den Deisterhang hinaufzuspazieren. Seit 35 Jahren tut sie das.

Man erkennt die naturverbundene Münderanerin am langen blonden Zopf. Früher auch an dem Terrier, der sie begleitete. Doch das ist seit seinem Tod vorbei. „Es gibt Tage, da muss ich mir richtig in den Hintern treten, um mich auf den Weg zu machen“, bekennt sie. Einmal draußen aber, genießt sie die Ansichten, die sich ihr bieten: Den Blick nach rechts in die Morgenröte hinein, den Blick hinunter, wenn nur noch kleine Bergspitzen inmitten von Nebel zu sehen sind. Heute lässt sich ein junger Bussard bewundern, der ruhig und aufgeplustert auf einer Stange am Feldrand sitzt.

„Jeder Tag ist anders“, sagt Reimann. „Und wir leben im Rhythmus der Jahreszeiten im Einklang mit der Natur“. Langweilig würde ihr die Strecke, die sie nur hier und da einmal variiert, nie. „Morgens gibt mir dieser Weg Kraft, gehe ich abends, stimmt mich das eher melancholisch“, beschreibt sie. Wenn sie doch einmal eine Ausnahme mache, fühle sie sich den ganzen Tag über verdreht, sagt die 72-Jährige. Anfang der 1970 er Jahre zog sie nach Bad Münder. Gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer damals ein Jahr alten Tochter.

Warum hierher? „Weil mir die Stadt im Urlaub so gut gefallen hat, dass ich beschlossen habe, hier zu leben“, antwortet Jutta Reimann. Schon immer sei sie naturverbunden gewesen und es wundere sie, dass Bad Münders (Natur-)Schönheit von vielen kaum wahrgenommen würde. „Wie im Dornröschenschlaf kommt mir die Stadt vor“, sagt sie. Sie selbst stammt aus Gelsenkirchen. Kennt noch die Zeit, als die am Morgen angezogene Bluse nach einem Gang durch die Straßen des Kohlereviers grau war.

In Bad Münder trifft sie immer wieder auf andere Spaziergänger. Darunter streckenbedingt auch solche, die einen Klinikaufenthalt am Deisterhang nutzen, um zu genesen. Wenn die Kurgäste gemeinsam an die frische Luft gehen, ist das oft der Anfang neuer, hilfreicher Gewohnheiten, verbunden mit der Hoffnung, dass sie bleiben mögen. Reimanns Ansicht dazu: „Eigentlich ist alles, was wir mit Freude tun, auch mit Disziplin verbunden“. Das Wort „müssen“ hat sie persönlich aus ihrem Wortschatz verbannt. „Ich finde, dass dieses ‚müssen‘ unser Leben zu sehr bestimmt.“ An Tagen, an denen sie Lust hat rauszugehen, entspreche es dem, was sie ‚möchte‘. „Und wenn ich mal keine Lust habe, dann ‚will‘ ich, damit es mir danach wieder besser geht“, lauten ihre Worte. Für sie sei es ein Geschenk, nach einem schweren Autounfall überhaupt noch und wieder laufen zu können. Für bleibende Beweglichkeit, ist sie bereit, etwas zu tun. „ Dass es mit zunehmendem Alter langsamer geht, nimmt sie hin. Eine Stelle auf dem Rückweg bietet freien Blick auf den heimischen Kirchturm. „Da zieht es meinem Po fast automatisch dahin, sich kurz auf die Mauer zu setzen“. Hier entstehe beinahe automatisch der Entwurf der nächsten Stunden. Ein bisschen Arbeit, ein bisschen Haushalt, was eben zu tun ist. „Wünsche und Ziele zu haben, sind für mich Voraussetzungen fürs glücklich sein“, betont sie noch. Beschenkt an Lebenszeit, in der sie tut, was ihr beliebt und bekommt, fühlt Reimann sich schon lange.