Zurück zur Leichtigkeit

Marlene rennt. Immer im Kreis herum, nimmt eine Rassel in die Hand, und schüttelt sie unablässig direkt neben ihrem Ohr. „Sie zeigt uns ihre Innenwelt, wir zeigen ihr die Welt draußen“, zitiert ihre Mutter, Tabea Korten, einen Lehrspruch aus der Therapie ihrer schwer autistischen Tochter.

Tatsächlich ist Marlene alles andere als allein in ihrer Welt und dem Raum um sich herum. Was seit wenigen Monaten in dem eigens für sie eingerichteten Spielraum im Haus der Kortens geschieht, eröffnet eine Welt neuer Erfahrungen. Für Marlene natürlich, aber auch für ihre Spielraumpartner.

Mit ihnen hält die Sechsjährige nun immer wieder Augenkontakt. Intensiv ist dieser Blick, manchmal begleitet von Lachen oder Lächeln. Hin und wieder fallen Worte neben den Lauten, mit denen Marlene sich äußert. Jeder Fortschritt, jede Erweiterung von Marlenes aktivem Wortschatz, wird gefeiert, innerhalb wie außerhalb des reizreduzierten Spielraums. Durch eine Glasscheibe ist das Geschehen stets von außen zu beobachten.

In dem Spielraum laden sehr unterschiedliche Menschen Marlene zum Spiel ein, oder aber sie machen mit, wenn Marlene sie dazu auffordert. „Au Ja“, lautet das Motto des pädagogischen Programms, auf das sich hier alle einlassen. Und dazu gehören Durchbrüche, die von außen betrachtet manchmal Gänsehaut bereiten. Mal lässt Marlene sich durchkitzeln, mal massieren.

Dann wieder stützt ein Spielraumhelfer sie bei einer waghalsigen Turnaktion über Tisch, Ball und Stuhl. An diesem Tag fasst Mike Rikus sie einmal so an den Fesseln, dass sie sicher über dem Gymnastikball liegt. Spürbare Ruhe folgt auf das rastlose Flitzen und Toben zuvor. „Das ist das Schöne, zu sehen wie mein Kind es plötzlich schafft, freundschaftliche Beziehungen zu Menschen außerhalb der Familie zu führen“, sagt Tabea Korten dazu.

Auch mit Spielraumhelferin Melanie Zick ist das offensichtlich. Freude macht sich auf den Gesichtern breit, als sie sich über den Gymnastikball hinweg tief in die Augen schauen. Als die 38-Jährige später in die Küche kommt, ruft sie strahlend: „Marlene ist gut drauf heute“. Zum Programm gehört es nicht nur, Entwicklungsschritte zu protokollieren, sondern auch danach zu fragen, wie es den Spielraumhelfern geht. „Für das, was Marlene macht, können wir nicht sorgen, sondern nur für uns“, erklärt Tabea Korten. Eine ungewohnte Erfahrung für viele Spielraumhelfer.

Denn bei aller Motivation kommen auch sie mal glücklicher, mal frustrierter, aus dem Raum. Doch die Feedback-Regeln sind klar: An erster Stelle und überwiegend gibt es Lob für das, was besonders gelungen ist, dann erst folgt eine Rückmeldung über einen Punkt, der noch besser klappen könnte. „Das ist eine sehr positive Atmosphäre“, beschreibt der 68-jährige Mike Rikus die Arbeit. Ihm mache es Spaß, Marlene zu helfen und ihre Entwicklung zu verfolgen.

Schritt für Schritt kommt Marlene raus aus ihrer Innenwelt, erlebt die sonst so fordernde und überfordernde Außenwelt als eine wohlgesonnene und lebenswerte Welt, die sie immer wirksamer beeinflussen kann. „Heilung gibt es nicht, aber wir versuchen, ihr so alles mitzugeben, um ihr Leben gut zu bewältigen“, sagen ihre Eltern. Marlenes kommunikativer Werkzeugkasten erweitert sich Woche um Woche.

Gut möglich, dass sie einmal normal sprechen wird. Und statt ausschließlich auf ihre engste Familie fixiert zu sein, wird sie flexibler. „Wir haben endlich einen Weg gefunden, der zu uns passt“, sagt Tabea Korten. Drill ist das hier nicht, sondern sehr modernes, spielerisches Lernen. Erziehung in Form von Beziehung. Mit dem mehrstündigen „AuJa“-Training an fünf Tagen in der Woche ist die Leichtigkeit zurückgekehrt in das Familienleben der Kortens. „So haben wir überhaupt erst mitgekriegt, was für ein humorvolles Kind Marlene ist“, sagt Tabea Korten. „Sie lacht sich kringelig, wenn andere sie imitieren und das gymnastisch nicht ganz so hinkriegen wie sie.“ Eine Art Slapstick-Humor sei das.

Das gemeinsame Zähneputzen mit Ausspucken lernen, brachte alle zum Lachen. „Mich rührt dieses Team immer wieder an“, betont Tabea Korten. Jeder bringe eigene Ideen und Stärken mit, von denen Marlene profitiere. Was so leichtfüßig daherkommt, ist eine große Entwicklung für die gesamte Familie.

In der Vergangenheit gab es Nächte, in denen beide Eltern Marlene auf dem Bett festhielten, damit sie ihren Kopf nicht weiter gegen die Wand schlägt. In der darauffolgenden Mutter-und-Kind-Kur fühlte Tabea Korten sich einsamer denn je mit dem Schicksal ihrer Tochter. „Es wurde überhaupt nicht besser, sondern schlechter“, erinnert sie sich an den Tiefpunkt.

Inzwischen verletzt Marlene sich kaum mehr. Im Kindergarten kommt sie zurecht. Nach den Ferien wird sie eingeschult. Und mit ihrem Spielraum und ihren eigenen positiven Erfahrungen damit haben die Kortens vor Kurzem einer anderen Familie mit autistischem Kind Starthilfe gegeben.

„Da waren mit den Dozenten, der neuen Familie und uns insgesamt 20 Leute hier im Haus und es hat geklappt“, sagt Tabea Korten immer noch verblüfft und hocherfreut.

Wer mehr über das „AuJa“-Programm erfahren möchte oder sich vorstellen kann, Marlene als Spielraumhelfer oder mit einer Spende zu unterstützen, kann sich im Internet unter www.sonnenwiege.de informieren.